Im März 2007 erhielt die Ortschaftsverwaltung Engstlatt von der gebürtigen Engstlatterin Dr. Ute Jetter einen Brief mit der Anfrage, weshalb es in ihrem Heimatort keinerlei Erinnerung an das Unternehmen „Wüste“ gebe. "In Buchenwald, Dachau und Auschwitz gewesen, bin ich beschämt und traurig, nicht von den Geschehnissen in meinem Heimatdorf zu wissen. Ich bin der festen Überzeugung, dass es unsere Aufgabe ist, an die Geschichte zu erinnern und über das Geschehen zu informieren." Davon unabhängig wandte sich im Januar 2009 Martin Sommerer aus Balingen mit einer ähnlich lautenden Anfrage an Oberbürgermeister Reitemann.
Beim Unternehmen „Wüste“ handelte es sich um den Versuch des nationalsozialistischen Regimes, in den letzten zwei Kriegsjahren, 1944 und 1945, durch den Abbau und die Verschwelung des am Fuße der Schwäbischen Alb zu findenden Ölschiefers, Treibstoff zu gewinnen. Zwischen Dusslingen und Nehren (Landkreis Tübingen) und Zepfenhan (Landkreis Rottweil) entstanden zehn Werke. In insgesamt 7 KZ-Außenlagern waren mehr als 12 500 KZ-Häftlinge untergebracht, deren Arbeitskraft beim Aufbau und Betrieb der Anlagen äußerst brutal ausgebeutet wurde. Das gesamte Unternehmen trug den Decknamen „Wüste“. Weit mehr als 3 500 Menschen wurden bei diesem irrsinnigen Unternehmen innerhalb eines Jahres zu Tode geschunden, nur um ein paar Tausend Liter Öl zu gewinnen.
Die KZ-Friedhöfe in Bisingen, Schömberg und Schörzingen, eine Gedenkstätte (Eckerwald), ein Museum (Bisingen) sowie ein Erinnerungspfad mit Ausstellung (Dormettingen) erinnern bisher an die damaligen Geschehnisse. Aber auch auf der Gemarkung der heutigen Stadt Balingen, in Engstlatt, in Erzingen und in Frommern, gab es Ölschieferwerke und KZ-Lager. Die Stadt Balingen selbst befand sich nicht nur räumlich gesehen im Zentrum des Unternehmens „Wüste“. Viele zentralen Einrichtungen und Organisationen waren in der Stadt untergebracht.
In Balingen wurden ab Ende der 1980er-Jahre die Geschehnisse in den beiden letzten Kriegsjahren aufgearbeitet. Im Jahr 1988 startete das vom Stadtarchiv geleitete Forschungsprojekt „Balingen 1918 – 1948“. Die damit beauftragte Historikerin Margarete Steinhart das 1991 in der Veröffentlichungsreihe des Stadtarchivs erschienene gleichnamige Buch. In einem Kapitel wurde darin auch auf das Unternehmen „Wüste“ eingegangen. 1993 erschien in der Festschrift zur 1200-Jahr-Feier für mehrere Balinger Stadtteile ein umfangreicher Aufsatz von Immo Opfermann über das Ölschieferwerk Frommern. Begegnungen mit ehemaligen KZ-Häftlingen gab es 1994 in Erzingen und 2001 in Frommern. Im Jahr 1994 präsentierte eine Arbeitsgruppe des Balinger Gymnasiums unter der Leitung von Immo Opfermann in der Zehntscheuer die Ausstellung „Das Unternehmen ‚Wüste’. Ölschieferwerke und Konzentrationslager entlang der Bahnlinie Tübingen – Rottweil 1944/45“. Zur Ausstellung lag ein 116-seitiger Katalog vor. Schließlich wurde im Jahr 2002 von einem Studenten der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd ein Film über das Frommerner „Wüste“-Werk gedreht.
Im Jahr 2009 kamen Oberbürgermeister Helmut Reitemann und der Balinger Stadtarchivar Dr. Hans Schimpf-Reinhardt überein, die Geschehnisse des Unternehmens „Wüste“ au der Balinger Gemarkung aufzuarbeiten. Die Erforschung der örtlichen Geschichte des Unternehmens „Wüste“ sowie die Entscheidung über die Art und Weise der Erinnerung sollte dabei von Balinger Bürgern ausgehen. Der Balinger Stadtarchivar sprach eine Reihe Geschichtsinteressierter an, ob Interesse für einen Arbeitskreis bestehe. Es beteiligten sich schließlich die Zeitzeugen Günther Ernst aus Erzingen, Hans Kratt aus Dürrwangen sowie der Engstlatter Helmut Stotz. Mit von der Partie waren auch der Schömberger Historiker und „Wüste“-Experte Immo Opfermann, sowie die Balinger Brigitte von Kellenbach, Martin Sommerer und Dr. Michael Walther. Bis zu seinem Tod im Jahr 2011 war auch der langjährige Balinger Bahnhofsvorsteher Guido Motika, der in Balingen als einer der Ersten auf dieses schlimme Kapitel der Vergangenheit aufmerksam machte, mit von der Partie. Der Arbeitskreis traf sich erstmals am 8. Dezember 2009 – damit begann eine intensive Auseinandersetzung mit dem Unternehmen „Wüste“ in Balingen.
In den nächsten Jahren traf sich der Arbeitskreis zu vielen Besprechungen und Ortsterminen. Die Mitglieder diskutierten die verschiedenen Möglichkeiten wie an die ehemaligen KZ-Orte und Ölschieferwerke sowie die noch vorhandenen Überreste dieses wahnwitzigen Unternehmens erinnert werden sollte. 2012 waren dann die grundsätzlichen Entscheidungen gefallen. An vier Standorten sollte jeweils ein Stelenpaar aus Beton aufgestellt werden. Eine der Stelen zeigt einen stilisierten Häftling in gestreifter Häftlingskleidung, mit einem roten Dreieck mit Häftlingsnummer auf seiner linken Brust, was ihn als politischen Häftling ausweist. Die zweite Stele mit eloxierten Aluminiumtafeln versehen, informiert über das Unternehmen „Wüste“ im Gesamten und über die Einrichtungen und Geschehnisse an dem Ort, an dem das jeweilige Stelenpaar aufgestellt ist. Sowohl die Konzeption wie auch die Gestaltung der Gedenkstelen wurden dabei von den Mitgliedern des Arbeitskreises erarbeitet.
In Frommern zeugen die ehemaligen Gebäude der LIAS-Ölschieferforschungsgesellschaft, vor allem die Schwelhalle und das Kesselhaus, von den Versuchen des nationalsozialistischen Regimes, aus Ölschiefer Treibstoff zu gewinnen. Die LIAS-Ölschieferforschungsgesellschaft, die im September 1942, also vor Beginn des Unternehmens „Wüste“ im Sommer 1944, gegründet worden war, konnte bis Kriegsende nicht mehr fertig gestellt werden. Von dem an das LIAS-Werk angrenzenden Konzentrationslager, ein Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof, sind keine Überreste mehr sichtbar. Der erst nach Kriegsende entstandene Schiefersee, der sich in der Nähe der Werksgebäude befindet, erinnert an den vergeblichen Versuch der französischen Besatzungsmacht, das Projekt fortzuführen. An diesem Schiefersee, an der Seestraße, wurde am Sonntag, dem 22. Juni 2014 im Beisein einer großen Anzahl von Bürgern, OB Reitemann, Ortsvorsteher Uhl sowie vielen Gemeinde- und Ortschaftsräten das erste Stelenpaar der Öffentlichkeit übergeben.
In Erzingen befand sich ein weiteres Außenlager des KZ Natzweiler-Struthof für sogenannten Nacht-und Nebel-Gefangenen. So wurden politische Gefangene, vor allem aus den besetzten Ländern West- und Nordeuropas bezeichnet, über deren Aufenthaltsort niemand Bescheid wissen sollte. Dieses spurlose Verschwinden der Gefangenen diente als Terrormaßnahme zur Einschüchterung der Bevölkerung der besetzten Gebiete. Auch von diesem Konzentrationslager sind keine Überreste mehr vorhanden. Ganz in der Nähe des ehemaligen Standorts, in der damaligen Bahnhofstraße, der heutigen Erlenstraße, wurde am 3. Mai 2015 dieses Erzinger Stelenpaare der Öffentlichkeit übergeben.
Von den „Wüste“-Werken 4 in der Flur Kilchsteige (auf dem Geischberg) und 5 im Bonbachtal finden sich heute immer noch bauliche Überreste. Auf dem Geischberg hat sich der einzige Schiefermeiler erhalten, der in seiner ganzen Länge etwa 300 misst, Metern, von einem kleinen Sträßchen durchbrochen wird und von Bäumen und Gebüsch bewachsen ist. Einige Meter von diesem Schiefermeiler entfernt, mit gutem Blick auf das Bonbachtal, steht seit dem Frühjahr 2015 das zweite Stelenpaar auf Erzinger Gemarkung.
Südwestlich des Meilers, in einem kleinen Wäldchen, haben sich ein Generatorenhaus und ein Ölbunker erhalten, beide gehörten zum Werk 4. Am östlichen Hang des Bonbachtals sieht man die Überreste eines Transformatorengebäudes, das zum Werk 5 gehörte. Auf dem „Hungerberg“ befand sich seit dem Jahr 1944 ein Barackenlager für russische Kriegsgefangene, die in den beiden „Wüste“-Werken arbeiten mussten. Die Lebensbedingungen dieser Kriegsgefangenen waren noch elender als die der Erzinger KZ-Häftlinge. Die Zahl der russischen Gefangenen, die bis zur Auflösung des Kriegsgefangenenlagers starben, ist unbekannt. Auf dem „Hungerberg“ sind im heutigen Gebäudebestand noch Teile des sogenannten „Russenlagers“ erhalten.
In Engstlatt, im Bereich Ried/Riedhalde, wurde im Sommer 1944 mit dem Bau des „Wüste“-Werks 3 begonnen. Von dem auf einer Fläche von 19 Hektar angelegten Schieferölwerk, das aber nie fertig gestellt wurde, findet sich heute nur noch ein Backsteinbau, der als Transformatorenstation vorgesehen war. Die Engstlatter Gedenkstele wird im Ried, einige Meter vom Bahndamm (in Richtung Bisingen) entfernt, wurde wie die Erzinger Erinnerungsmahnmale am 3. Mai 2015 der Öffentlichkeit übergeben.
Im ersten Halbjahr 2013 stellte der Arbeitskreis dem Gemeinderat der Stadt Balingen sowie den Ortschaftsräten der betroffenen Teilgemeinden seine Ergebnisse und den Entwurf der Stelenpaare vor. Alle Gremien befürworteten immer einstimmig die Errichtung der Gedenkstelen. Auch über die Standorte wurde schnell und unbürokratisch Einigkeit erzielt. Diese parteiübergreifende Unterstützung durch die politischen Gremien und die Verwaltung war und ist ein wichtiges Zeichen und drückt den Willen der Bürgerschaft aus, das Geschehen während der nationalsozialistischen Diktatur vorbehaltlos aufzuarbeiten.
Die Stadt Balingen unterstützte das Vorhaben aber nicht nur ideell und organisatorisch sondern auch finanziell. Sowohl dem Zweckverband der Oberschwäbische Elektrizitätswerke (OEW) wie auch der Sparkasse Zollernalb (Stiftung Kunst, Bildung und Kultur) ist der Arbeitskreis für ihre großzügigen Spenden zu Dank verpflichtet. Und schließlich leistete die Heimatkundlichen Vereinigung Zollernalb e.V., die aus Anlass ihres 60. Jubiläums das Frommerner Stelenpaar stiftete, einen wichtigen Beitrag gegen das Vergessen. Zu großem Dank ist der Arbeitskreis der Firma BTM Bauteam Mössingen GmbH um Dieter Wachholz, Friedemann Schneider und Jakob Nill verpflichtet. Nur durch ihre Kreativität und große Sorgfalt gelang es, die nicht leicht umzusetzende Idee des Arbeitskreises, die in einem Stück gegossenen Betonstelen, Wirklichkeit werden zu lassen.
Die Errichtung der Gedenkstelen ist nur er erste Schritt für ein langfristiges und auf Nachhaltigkeit angelegten Projekt. Mit der durch die Balinger Grafikdesignerin Petra Penz professionell gestalteten Internetseite des Arbeitskreises, finden sich neben Bildern und Texttafeln der vier Gedenstelen viele weitere wissenswerte Informationen zum Unternehmen „Wüste“ auf der Balinger Gemarkung und im Stadtgebiet von Balingen.
Mitglieder des Arbeitskreises sind seit 2016 auch im Gedenstättenverbund Gäu-Neckar-Alb e.V. engagiert. Der Verbund ist ein regionaler Dachverband, der zehn Gedenkstätten vereint: fünf Synagogengedenkstätten (Baisingen, Haigerloch, Hechingen, Rexingen und Rottweil), drei KZ-Gedenkstätten (Bisingen, Eckerwald, Hailfingen-Tailfingen), die Geschichtswerkstatt Tübingen und die Stauffenberg-Gedenkstätte Lautlingen. Der Arbeitskreis „Wüste“ Balingen wird auch bei der Tagung der KZ-Gedenkstätten zum Umgang nach 1945 und Zukunft des Erinnerns am 14. Oktober 2017 in Hailfingen-Tailfingen teilnehmen.
Aufgabe des Arbeitskreises ist die Aufarbeitung und Dokumentation der Geschehnisse im Zusammenhang mit dem Unternehmen „Wüste“ auf der Gemarkung der Stadt Balingen. Neben Führungen zu den Orten des Unternehmens „Wüste“ werden regelmäßig Vorträge und Exkursionen sowie Veröffentlichungen in Publikationen wie der Gedenkstätten-Rundschau, der Zeitschrift für Hohenzollerische Geschichte (ZHG) und den Heimatkundlichen Blättern angeboten.
Der Arbeitskreis bedient mit seiner Arbeit ein wachsendes Interesse der Öffentlichkeit an der lokalen und regionalen Geschichte. Leider steht dieser Offenheit eines großen Teils der Bevölkerung aktuell eine gegenläufige Entwicklung gegenüber, die mit ihren scheinbar einfachen Antworten auf eine immer komplexer werdende Welt, in letzter Konsequenz für eine Politik der Intoleranz und Ausgrenzung steht. In diesem Zusammenhang sind auch die Versuche zu sehen, die nationalsozialistische Vergangenheit zu relativieren und die von großem bürgerschaftlichen Engagement getragene Gedenkstättenarbeit in Frage zu stellen. Diese gesellschaftlichen Kräfte verstehen nicht, oder wollen nicht verstehen, dass Gedenkstättenarbeit, wie sie viele Initiativen zum Teil seit Jahrzehnten begreifen und ausüben, gelebte Völkerverständigung und ein nicht mehr wegzudenkender Aspekt des friedlichen Zusammenlebens und -wachsens der europäischen Staatenwelt ist. Versuche zur Relativierung des nationalsozialistischen Unrechts zeugen nicht nur von „intellektueller Feigheit“, wie es die baden-württembergische Landtagspräsidentin Muhterem Aras in ihrer Rede am 27. Januar 2017 ausgedrückte, sondern von intellektueller Unredlichkeit oder schlicht und einfach Unkenntnis über die deutsche und europäische Geschichte des 19. und 20. Jahrhunderts.
Der Arbeitskreis benötigt den positiven Zuspruch aus der Bevölkerung und sucht weitere Mitstreiter für die zahlreichen wichtigen Aufgaben, die es zu erledigen gilt. Dazu gehören die vollständige Erfassung aller bekannten baulichen Überreste des Unternehmens „Wüste“ auf der Gemarkung Balingen oder die Organisation von Besuchen und Treffen ehemaliger Opfer oder deren Nachkommen. Die Erarbeitung von Materialien für eine qualifizierte Gedenkstättenarbeit und deren Bereitstellung für Schulen und Einrichtungen der Jugend- und Erwachsenenbildung sind mögliche Themen in den nächsten Jahren. Schließlich sind viele Aspekte des Unternehmens „Wüste“ nicht erforscht. Dazu gehören Fragen nach dem Einsatz und Schicksal von Kriegsgefangenen und zivilen Fremdarbeitern oder die Verflechtungen des „Wüste“-Projekts mit den lokalen und regionalen Behörden.
Balingen, im Februar 2017